2.400 Kilometer mit dem Rad für den Atomausstieg
Neun Stunden Zugfahrt und eine Zitterpartie, ob wir trotz der ausgebuchten Fahrradplätze im ICE mitgenommen werden, liegen hinter uns. Endlich steigen wir in Mosbach-Neckarelz aus. Herrliche Landschaft. Ich erinnere mich dunkel, hier schon gewesen zu sein. Wir fahren über den Neckar ins heutige Nachtquartier der dreiwöchigen Anti-Atom-Radtour, die .ausgestrahlt vor fast einem Jahr angekündigt und seitdem organisiert hat. Ein Demeter Hof. Unter dem Vordach der Scheune läuft bei unserer Ankunft ein Vortrag über die Proteste anlässlich der CASTOR-Transporte auf dem Neckar im Jahr 2017. Wir erkennen uns auf den Fotos und werden sofort von damaligen Mitstreiter*innen herzlich empfangen.
Am nächsten Tag fahren wir den gleichen Weg, den damals die CASTOR-Transporte nahmen: vom abgeschalteten AKW Obrigheim zum Zwischenlager Neckarwestheim den Neckar flussaufwärts. Wir halten, wo wir damals die Transporte aktivistisch stoppten: an der Gundelsheimer Schleuse, der Brücke bei Bad Wimpfen und ganz zum Schluss an einem unscheinbaren Parkplatz hinter Heilbronn. Bei kurzen Info-Stopps bringen wir uns gegenseitig in Erinnerung, dass hier eine Ankettaktion, ein Bannerdrop und eine Schwimmaktion stattgefunden haben. Sie konnten die CASTOR-Transporte zwar allesamt nicht aufhalten, haben aber geholfen, die mit dem Atommülltransport auf dem Wasserweg verbundenen Risiken öffentlich bekannt zu machen. Endlich am AKW und Zwischenlager Neckarwestheim angekommen, stoßen weitere Demonstrierende hinzu. Die Sonne brennt, während die örtlichen Bürgerinitiativen über die aktuellen Gefahren am Standort berichten: In den Rohren des Wärmetauschers vom Primär- zum Sekundärkreislauf wurden bei den letzten Revisionen wiederholt feine Risse gefunden. Sollte eines der dünnen Rohre abreißen, ist mit einem lebensbedrohlichen Störfall zu rechnen! Für den steilen Anstieg zu unserem Quartier werden wir am Abend mit Liedern von Gerd Schinkel bis in die Dunkelheit hinein belohnt.
Der nächste Morgen überrascht uns mit einem herrlichen Sonnenaufgang. Wir fahren in großem Bogen die Windkraftanlage in Ingersheim an und lassen uns in ihrem Schatten erzählen, wie eine Genossenschaft jahrelang für deren Aufstellung kämpfte, bis dies endlich gelang. Weiter über Ludwigsburg nach Stuttgart. Nach einem steilen Aufstieg über die Weinsteige, bei dem unser Lastenrad streikt, genießen wir einen „Pausentag“. Das bedeutet jedoch zunächst, dass wir mittags zu einer ROBIN WOOD-Aktion am Landesumweltministerium dazu stoßen. Die dem Ministerium unterstellte Atomaufsicht versäumt es nämlich seit Jahren, die EnBW als Betreiber von Neckarwestheim in die Pflicht zu nehmen, die oben erwähnten rissigen Rohre zu ersetzen - sie lässt den Pannenmeiler statt dessen immer wieder ans Netz. Nach einem Abstecher in unser Lieblingsschwimmbad Leuze gesellen wir uns abends zur Montagsdemo gegen das zerstörerische Bahn- und Immobilien-Projekt S21 und tauschen uns im Anschluss über unsere Erfahrungen aus.
Schon am nächsten Abend sind wir in Mutlangen, wo in den 1980er Jahren Pershing-II-Raketen stationiert worden waren, was eine beachtliche Friedensbewegung heranwachsen ließ. Wir lernen nicht nur, dass in Büchel in der Eifel noch immer startbereite Atomwaffen lagern, sondern auch, dass viele Aktionsformen, welche die Anti-AKW-Bewegung geprägt haben, zuvor bereits in und um Mutlangen erprobt worden waren.
Weiter geht es Richtung Gundremmingen, wo erst Ende vergangenen Jahres der letzte Block des AKW vom Netz ging. In Ulm trommeln wir im wahrsten Sinne des Wortes lautstark für den Atomausstieg. Hier beginnt auch die länderübergreifende tonschichtgeprägte Zone, die sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz als möglicher Endlagerstandort in der Debatte ist. Riedlingen, Engen und Benken, die wir in drei Tagesetappen durchqueren, gehören zu den bedrohten Orten.
Dabei ist die Gruppe der Radfahrenden ständig im Wandel. Denn während einige Mitstreiter*innen wochenlang in die Pedale treten, sind andere nur für wenige Stunden oder Tage dabei. Viele sind schon seit Jahrzehnten im Atomwiderstand, sogar eine 82-Jährige leistet uns für zwei Tage Gesellschaft. Der jüngste Teilnehmer kam erst vor drei Monaten auf die Welt.
Kurz hinter dem Rheinfall bereiten uns die Schweizer einen tollen Empfang. Mitten auf einem Acker versammeln sich hunderte Demonstrierende. Denn genau hier könnte das Schweizer Tiefenlager für hochradioaktiven Atommüll entstehen. Die Bekanntmachung einer Standortentscheidung durch die NAGRA (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) steht in nur wenigen Tagen bevor. Dabei liegt der Ort Benken in einer geologisch aktiven Region, und viele Fragen hinsichtlich der Langzeitsicherheit sind ungeklärt.
Die uns begleitende mobile Küche „Fläming Kitchen“ hat einen Tag Pause. Stattdessen versuchen sich die Schweizer im Grillen veganer Weißwürste, während auf der Bühne nach vielen Reden und Musik ein Kabarettist, die Atompolitik der Schweiz auf die Schippe nimmt.
Am Folgetag lernen wir, dass auch ein reiches Land wie die Schweiz weiter auf lebensgefährliche Energieträger statt auf die Erneuerbaren setzt. Wir sehen die beiden Atommeiler von Beznau auf einer Schwemminsel des engen Aare-Tales. Die Bilder von der Flutkatastrophe im Ahrtal im Hinterkopf, läuft es uns kalt den Rücken herunter. Dieses AKW ging bereits in den 1960er Jahren ans Netz und entspricht in keiner Weise den heutigen technischen Anforderungen. Ähnlich sieht es bei dem nur wenige Kilometer entfernten AKW in Leibstadt aus.
Im weiteren Verlauf der Tour reihen sich die Erfolge der Bewegung aneinander. In Kaiseraugst wie ihn Wyhl konnten geplante AKW durch Bauplatzbesetzungen verhindert werden. Im Kanton Basel steht sogar in der Verfassung, dass AKW hier keinen Platz haben. Der perfekte Ort, um die lokale Gepflogenheit, sich im Rhein treiben zu lassen, aufzugreifen und neu zu interpretieren. Mit Bannern und Luftballons geschmückt starten wir gut sichtbar unseren „Rheinschwumm“.
Während wir unterwegs sind, wird die Debatte um Laufzeitverlängerung immer lauter und absurder. Wir können kaum fassen, dass die ewig gestrigen Parteien – noch immer und wider besseres Wissen – versuchen, das GAU-Rrisiko ausgerechnet in Kriegszeiten zu verlängern. Zugleich zeigt uns die Tour: Die Bewegung hat einen langen Atem. Und falls es die Bundesregierung wagen sollte, mit dem sog. Streckbetrieb Tür und Tor für Laufzeitverlängerungen zu öffnen, ist mit uns zu rechnen. Oder wie sie damals in Wyhl sagten: „Mir sin eifach wieder do, wann se kumme wänn.“
Nach zwei Wochen mit vielen beeindruckenden Menschen und Orten findet die längste Anti-Atom-Demo in Freiburg mit einer Kundgebung und einem Fest ihr passendes Ende. EWS erinnert daran, dass wir auch direkt in die Energiewirtschaft eingreifen können. Die „Stromrebellen“ hatten damit bereits in den 1980er Jahren begonnen und sind als Ökostromanbieter in ihrem Engagement für Erneuerbare und gegen Atomkraft bis heute deutschlandweit nicht zu toppen, wie sich auch in unserem Ökostromreport nachlesen lässt.
.ausgestrahlt hingegen mahnt, dass das AKW in Fukushima nur vier Wochen nach einer Laufzeitverlängerung in Folge von unvorhergesehenen Tsunami-Wellen havarierte. Bleiben wir gemeinsam dran und zeigen: Mit uns gibt’s keinen Tag Laufzeitverlängerung!
Für die Demo in Lingen (Nds.) gegen den Weiterbetrieb des dortigen AKW steht schon der Termin: 1.10.2022. Mehr Infos unter: atomstadt-lingen.de. Auch für Neckarwestheim laufen die Planungen bereits an. Beim Aktionsbündnis wird es zeitnah Infos geben. Weitere Infos gibt es bei .ausgestrahlt. Wir sind der Organisation sehr dankbar, dass sie genau zum richtigen Zeitpunkt die Anti-Atom-Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes zusammengeführt hat und stets ganz vorn mit dabei für den weltweiten Atomausstieg kämpft.