Waldbesetzung in den polnischen Karpaten wurde geräumt
Rodungen in dem Natura-2000-Gebiet werden vorbereitet
Seit Winter 2020 war das Waldstück Nora 219a in den polnischen Karpaten von polnischen und internationalen Aktivist*innen besetzt. Am 8. August 2022, nach 583 Tagen Besetzung, wurde das gleichnamige Camp Nora219A unter einem Vorwand von der Polizei, Feuerwehr, Bergrettung und Grenzkontrolltrupps geräumt. Der Protest soll Fällarbeiten in dem Waldgebiet verhindern und mediale Aufmerksamkeit auf die voranschreitenden Rodungen der zusammenhängenden Wälder in den polnischen Karpaten erzeugen.
Es ist Winter, Anfang des Jahres 2022. Es liegt kniehoch Schnee in den Ausläufern der polnischen Karpaten. Die erste Aufgabe des Tages, Wege durch den Schnee schaufeln, für das Frühstück Wasser aus dem nahegelegenen Bach holen oder Schnee über dem Feuer schmelzen. Hier im Walddistrikt Nora 219a, im südöstlichsten Teil des Landes, haben Aktivist*innen ihr Protestcamp aufgebaut, um gegen die Rodungen, die hier stattfinden sollen zu protestieren und sichtbar zu machen, was hier passieren soll. Die Wölfinnen (Wolfens), wie sich die Waldaktivist*innen nennen, haben sich mitten in der hügeligen Landschaft auf einer Zufahrtsstraße einen Ort des Widerstandes gebaut.
„Wir, die WölfInnen, setzen uns für den Wald und die darin lebenden Lebewesen ein. Wir fordern ein Ende des Holzeinschlags und der Jagd in den mehr als 100 Jahre alten Beständen in der Pufferzone des Bieszczady-Nationalparks. Wir fordern, dass sofortige Schutzmaßnahmen ergriffen werden und die Staatswälder gemäß den Erwartungen der Öffentlichkeit reformiert werden.
Wir handeln so, wie wir wollen, dass die Welt handelt – ohne Hierarchie, Herrschaft des Menschen über andere Wesen, Patriarchat, Queerphobie und Faschismus. Mit radikaler Empathie und Fürsorge. Schulter an Schulter, Pfote an Pfote, egal was passiert, wir leisten Widerstand und starten eine Waldrevolution!" - schrieben sie in einem Manifest, mit dem sie den Protest starteten. Die Gruppe ist anonym, und ihre Mitwirkenden tragen wolfsähnliche Masken.
Das Waldgebiet ist wenig berührt durch Menschen. Hin und wieder durchschneiden Wege für die Forstwirtschaft die riesigen Wälder. Hier ist Lebensraum für seltene Tier- und Pflanzenarten. Bären, Wölfe, Bisons, Luchse und Wildkatzen bewohnen diese Gebiete und einige sehen sich manchmal neugierig an, was die WölfInnen machen. „Manchmal sahen wir Spuren von Braunbären nahe des Camps. Auf dem Weg zum Bach sind Vögel wie Uralkauze zu hören, und bei uns in der Küche hat ein Siebenschläfer gewohnt“, erzählt uns Needle.
Es ist eine gefährliche Umgebung, doch nicht weil Menschen Angriffe von Tieren befürchten müssen. Waldarbeitern und Jägern gefällt es nicht, dass Aktivist*innen hier unterwegs sind. Hin und wieder kommen sie auch zum Camp und beschweren sich über die Anwesenheit der Wölf*innen und machen Fotos.
Die Nähe zur ukrainischen Grenze macht es noch schwerer, sich in der Gegend zu bewegen. Grenzkontrolltrupps patrouillieren durch die Wälder und kontrollieren Personen, die sie antreffen und sind nicht erfreut über die Waldbesetzer*innen. Es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den behördlichen Kräften und Angriffen von unbekannten Personen auf die Aktivist*innen.
Der Walddistrikt Nora 219a hat eine lange Geschichte. Bis 1945 wurde dort kein einziger Baum gefällt. Danach übernahm eine Gruppe von Jägern die „Herrschaft“ über den Distrikt und verhinderte Abholzungen. Jetzt sollen 30 Prozent der Bäume gefällt werden.
Dabei gehört dieser Walddistrikt zum Natura 2000-Gebiet „Bieszczady" und grenzt direkt an den Bieszczady-Nationalpark. Aufgrund seines einzigartigen Grades an Wildnis hätte er von der Stiftung zur Bewahrung des Naturerbes zum Naturschutzgebiet erklärt werden können. In diesem Wald leben u. a. der Uralkauz und der Weißrückenspecht, die zu den geschützten Vogelarten gehören. Außerdem gibt es hier 13 geschützte Moos-, Flechten- und Lebermoosarten. Bergwälder haben die Fähigkeit, Wasser zu speichern. Sie schützen das ganze Land vor Dürren und Überschwemmungen.
Die Räumung des Protestcamps kam sehr plötzlich. Während des in Nora219A stattfindenden Skillshares, einem Treffen zum Wissens- und Erfahrungsaustausch, kam die Polizei am Morgen des 8. August 2022. Es gab keine Warnung, keine Kontaktaufnahme der Behörden sowie keine Rechtsgrundlage für den Einsatz. Zuerst wurden alle Personen, die sich am Boden befanden festgenommen, dann ließ die Polizei durch die Feuerwehr und Bergrettungskräfte Menschen aus den Strukturen der Besetzung räumen und nahm diese auch in Gewahrsam. Presse und Beobachter*innen, die zur Räumung gekommen waren, wurden eingeschüchtert und weggeschickt. Alle im Camp befindlichen Menschen wurden zu Polizeiwachen gebracht, ohne einen Grund für die Maßnahmen genannt zu bekommen. Medikamente wurden beschlagnahmt, also willkürlich weggenommen, und ihre Rückgabe verweigert. Die offizielle Begründung der Behörden war schlicht: Verdacht auf Drogenbesitz. Betäubungsmittel wurden aber nicht gefunden, dafür wurde vieles an Material und persönlichem Besitz der Aktivist*innen abtransportiert. Das Gebiet um Nora 219a wird nun weiträumig überwacht. Dass es den Behörden nicht um die Sicherheit der Aktivist*innen geht, zeigt sich noch deutlicher dadurch, dass noch während der Räumung Waldmaschinen zum Roden in der unmittelbaren Umgebung gesichtet wurden.
Trotz oder gerade wegen dieses überfallartigen Einsatzes bleiben die Wölf*innen aktiv. Die Räumung löste Proteste aus. Es geht nicht nur um Nora 219a, sondern darum, wie die Verantwortlichen mit der Natur und der öffentlichen Darstellung von Problemen umgehen. Der Fluss Odra („Oder“ in Deutschland) ist so stark verschmutzt, dass dieser zu weiten Teilen biologisch tot ist. „Wir rufen die Menschen dazu auf, sich gegen die korrupte Regierung zu organisieren und sich nicht weiter ausbeuten zu lassen. Es profitieren wenige von der Zerstörung unserer natürlichen Umgebung. Die Kosten tragen aber wir alle. Wir müssen weg von diesem patriarchalem, kapitalistischem System. Die kleinen Leute wissen das auch oft und unterstützen uns wenn sie können, aber die politische Realität sieht leider so aus, dass mit Angst gearbeitet wird“, sagt Needle.
Einige Medien versuchen, den Protest als gefährlich zu diffamieren. Unabhängige Berichterstattung zeigt ein anderes Bild. Durch das brutale Vorgehen sollen Menschen davon abgeschreckt werden, gegen die unfairen Zustände aktiv zu werden. Unklar ist auch, wohin das Holz sowie das Geld aus den Rodungen geht. Die Ortsansässigen und die örtliche Forstbehörde verdienen an den Fällungen nicht. Nachzuverfolgen, wo das in dieser Gegend geschlagene Holz verbleibt, ist schwer. Der Verdacht liegt nahe, dass sich an den Wäldern einige Konzerne, Politiker*innen und andere Einzelpersonen bereichern und die Kosten für ihr rücksichtsloses Handeln der Allgemeinheit hinterlassen.